Wundersame Märchen
 Reise in die Märchenwelt 



Magie verbindet sich in unserer Vorstellung mit Hexerei, Zauber und Zauberkunst. Es entstehen in uns Bilder, bei denen Wesen durch geheimnisvolle, übernatürliche Kräfte Einfluss auf andere Menschen nehmen.

Magie im Märchen

"Unter einem Märchen verstehen wir eine mit dichterischer Phantasie entworfene Erzählung besonders aus der Zauberwelt, eine nicht an Bedingungen des wirklichen Lebens geknüpfte Geschichte...Das Märchen folgt nicht den Gesetzen der Wirklichkeit, es bietet - phantastisch wunderbare Begebenheiten, die sich in Wahrheit nicht ereignet haben und nie ereignen konnten, weil sie Naturgesetzen widerstreiten."
(Röhrich, L.: Märchen und Wirklichkeit, Wiesbaden 1974. S.1)


Ohne Magie sind Märchen keine Märchen!

Märchen erscheinen uns irreal und fantastisch, sie scheinen mit unserer angeblichen Realität nichts zu tun haben. Ständig geschieht etwas Wunderbares und Zauberhaftes und doch ist dies alles selbstverständlich. Tiere und Pflanzen können sprechen; Wünsche gehen in Erfüllung; Tote werden auferweckt; die Helden können fliegen, Berge versetzen, die Sonne, den Mond und die Sterne besuchen; Hexen können verwünschen, versteinern und verzaubern.

Märchen sind Fenster zur anderen Welt, zu einer anderen Wirklichkeit (E. Drewermann). In ihnen treten magische Gestalten und Fabelwesen auf. Diese geben dem Märchen oft eine überraschende Wendung und beeinflussen den Märchenhelden auf wundersame Weise. Dies kann durch bloßes inneres Wünschen, durch ausgesprochene Worte oder durch Zaubersprüche erfolgen. Manchmal bedarf es auch eines besonderen magischen Gegenstandes. Hierbei denken wir meistens an einen Zauberstab oder einen Zauberring.

Diese Gestalten können mit ihrem magischen Handeln dem Märchenhelden Unterstützung verleihen und Gutes tun oder sie können zu seinem Unheil beitragen.


Im Märchen "Dornröschen" erleben wir beide Aspekte:
Elf weise Frauen agieren bei Dornröschens Geburt positiv, da sie der Märchenheldin Reichtum, Schönheit und Tugendhaftigkeit schenken. Die dreizehnte weise Frau fungiert dagegen als böse, schädigende Negativ-Fee, sie wünscht Dornröschen den Tod. Die zwölfte Fee, die den Fluch auf hundert Jahr Schlaf mildert, fungiert wiederum als Helferin.

Schauen wir uns einige andere magische Märchengestalten, wie sie mit ihrer Magie in den Verlauf der Geschichte eingreifen:


Im Märchen "Jorinde und Joringel" stellt eine Zauberin für die Titelhelden, die sich "in den Brauttagen" befinden, ein großes Hindernis auf deren Weg zum Glück dar.
Ihre magischen Fähigkeiten verwendet sie, um sich tagsüber in eine Katze oder eine Nachteule zu verwandeln. Abends kehrt sie wieder in eine menschliche Gestalt zurück.
Weiterhin zaubert sie, dass Lebewesen, die sich ihrem Schloss auf hundert Schritte nähern, unbeweglich werden. Nur sie selber kann diesen Zustand der Erstarrung mit einem Spruch rückgängig machen. Jungfrauen, die sich nähern, verwandelt sie in Vögel, sperrt sie in Körbe und hält sie im Schloss gefangen.


Im Märchen "Brüderchen und Schwesterchen" ist die Stiefmutter der beiden Kinder eine Hexe.
Sie behandelt die Geschwister so schlecht, dass diese es nicht mehr aushalten und deshalb fliehen. Daraufhin schleicht die Gegenspielerin herbei, "heimlich, wie die Hexen schleichen" und verwünscht alle Brunnen im Wald mit einem Schadenszauber, dreimal: "Wer aus mir trinkt, wird ein Tiger", "wer aus mir trinkt, wird ein Wolf", "wer aus mir trinkt, wird ein Reh."

Später im Schloss nimmt sie die Gestalt einer Kammerfrau an und verleiht ihrer einäugigen Tochter die Gestalt der Königin. Lediglich die Einäugigkeit kann sie nicht beheben. Ganz zum Schluss tötet sie gemeinsam mit ihrer Tochter das Schwesterchen.


Im Märchen "Die zwei Brüder" trennen sich die Wege der beiden Titelhelden. Einer der Brüder gerät in einen Zauberwald. Dort verwandelt ihn eine Hexe in Stein. Der andere Bruder will den Verzauberten retten. Er gelangt ebenfalls in den Wald und will sie erschießen. Er erfährt aber, dass sie "fest gegen alle Bleikugeln" ist. Er überwindet den Zauber, indem er die Hexe mit drei silbernen Knöpfen vom Baum herunterschießt. Dann zwingt er sie, den Zauber bei seinem Bruder und allen weiteren Versteinerten aufzuheben. Sie kann dies durch ihre Zauberrute erreichen. Als sie die Steine mit einer Rute berührt, werden sie "wieder lebendig". Nachdem beide die Hexe besiegt haben und sie verbrannt ist, öffnet sich der Wald und macht den Rückweg für die beiden Brüder frei.


Neben den magischen Gestalten und Fabelwesen gibt es auch magische Gegenstände. Sie sind ausgestattet mit übernatürlichen Eigenheiten und dienen dem Märchenhelden zur Unterstützung.
Um einige Beispiele dafür zu nennen:

  • die Siebenmeilenstiefel
  • der Zauberring, der einem Wünsche erfüllt
  • der Zauberspiegel, der einem die Wahrheit sagt oder anzeigt, was eine andere Person macht
  • der Tisch, der sich von alleine deckt
  • der Esel, der Gold spuckt
  • der Knüppel im Sack, der auf Befehl des Helden andere verprügelt
  • die Wunderlampe, die jeden Wunsch erfüllt
  • der fliegende Teppich, mit dem der Held gemäß seinem Wunsch überall hinfliegen kann
  • Einen Umhang oder eine Tarnkappe, die den Helden unsichtbar macht
  • das Feuerzeug, der Geist in der Flasche, die jeden Wunsch des Helden erfüllen
  • u.v.a.

Im Märchen tauchen auch magische Situationen auf, die "wundersam" erscheinen. Es ist aber das Normalste auf der Welt, dass Gegenstände, Pflanzen oder Tiere reden können und mit dem Helden in Kontakt treten. Sie können dem Helden schaden, aber zumeist geben sie ihm weise Ratschläge.


Im Märchen "Tischlein deck dich" sprach der Junge abends, als es Zeit war heimzugehen, mit der Ziege. Das boshafte Tier antwortete:

"Wovon sollt ich satt sein?
Ich sprang nur über Gräbelein
Und fand kein einzig Blättelein, meh! meh!
"


In "Brüderchen und Schwesterchen" ist es ein Brunnen, der redet.

Als sie zum zweiten Brünnlein kamen, hörte das Schwesterchen, wie auch dieses sprach: "Wer aus mir trinkt, wird ein Wolf, wer aus mir trinkt, wird ein Wolf."


Im Märchen "Die drei Sprachen" sind es Vögel, die hilfreich eingreifen.

"Darauf musste er eine Messe singen und wusste kein Wort davon, aber die zwei Tauben sassen stets auf seinen Schultern und sagten ihm alles ins Ohr."


Im Märchen "Frau Holle" sind es nun Dinge und Bäume, die sprechen können.

... kam zu einem Backofen, der war voller Brot; das Brot aber rief: "Ach, zieh mich raus, zieh mich raus, sonst verbrenn ich: ich bin schon längst ausgebacken." Da trat es herzu und holte mit dem Brotschieber alles nacheinander heraus. Danach ging es weiter und kam zu einem Baum, der hing voll Äpfel, und rief ihm zu: "Ach, schüttel mich, schüttel mich, wir Äpfel sind alle miteinander reif." Da schüttelte es den Baum, ...


Im Märchen "Der gestiefelte Kater" ist es der Einfallsreichtum und die Klugheit des sprechenden Tieres, die dem Märchenhelden zu Glück und Reichtum verhelfen.

"Hör," fing der Kater an, der alles verstanden hatte, "du brauchst mich nicht zu töten, um ein Paar schlechte Handschuhe aus meinem Pelz zu kriegen; lass mir nur ein Paar Stiefel machen, dass ich ausgehen und mich unter den Leuten sehen lassen kann, dann soll dir bald geholfen sein." Der Müllersohn verwunderte sich, dass der Kater so sprach, ...


Die Symbolsprache und die Urbilder der Märchen haben auch etwas Geheimnisvolles, Magisches an sich. Sie gilt es zu entschlüsseln, so dass wir die Botschaft des Märchens verstehen können.

Archetypen
"Archetyp" stammt aus dem Altgriechischen, von "arche" (Beginn, Anfang) und "typos" (Vorbild, Skizze). Er lässt sich als Urbild, erstes Vorbild beziehungsweise Muster interpretieren. Archetypen äußern sich oft unbewusst in symbolischen Bildern. Volkstümliche Märchen besitzen oft "archetypische Akteure" wie Held, Gegenspieler, Helfer oder gute beziehungsweise böse Mutter.


C. G. Jung sprach vom kollektiven Unbewussten. Er hatte so die Vorstellung, dass das Unterbewusstsein eines Menschen mit denen aller anderen Menschen verbunden ist, so wie einzelne Wassertropfen sich im Meer zu einem Ganzen verbinden. Was dort gespeichert ist, ist für jeden einzelnen Menschen abrufbar, wenn es ihm gelingt eine Verbindung zu seinem Unbewusstsein herzustellen. Archetypen müssen also nicht im Laufe des individuellen Lebens erlernt werden. Ein Archetyp als solcher ist unbewusst, ist aber in seiner Wirkung in symbolischen Bildern erfahrbar, so wie in Träumen, Visionen, Kunstwerken, Märchen und Mythen. (Jung nennt vier Archetypen wie "Schatten", "Anima / Animus", "Alte Weise / Alter Weiser" und "Selbst")

Die Urbilder menschlicher Vorstellungsmuster haben zu allen Zeiten und in den unterschiedlichsten Kulturen ähnliche Bilder hervorgebracht und können somit als kollektive Menschheits-erfahrungen gelten. Vor allem elementare Erfahrungen wie Geburt, Ehe, Mutterschaft, Trennung, Alter und der Tod haben in der Seele der Menschen eine archetypische Verankerung. Carl Gustav Jung sah in den Märchen Schlüssel zur Erhellung der Vorgänge in der menschlichen Seele.


Warum werden wir von Märchen oft so wundersam berührt?

Sie berühren uns auf der unbewussten Ebene der Archetypen. Dem kann sich niemand entziehen. Sie erzeugen sowohl auf bewusster Ebene als auch auf unbewusster Ebene bei dem Zuhörer oder Leser eine große Resonanz, die sehr tiefgreifend sein kann.


Wir können dies am Märchen "Frau Holle" gut nachspüren. Wie viele wundersame Dinge begegnen uns da!
Ein Mädchen springt in einen Brunnen und kommt in einem anderen Land unter der Erdoberfläche wieder heraus. Es schüttelt in diesem unter der Erde liegenden Bereich die Kissen, und dann schneit es auf der Erde von oben.
Schon dieses kleine Beispiel zeigt, dass es in Märchen um etwas ganz anderes gehen muss, als um irgendwelche Geschichten, die eine - wenn auch wunderliche - reale Wirklichkeit abbilden.
In Wahrheit ist Frau Holle ein Märchen, das vom Archetypus Tod und Wiedergeburt handelt.
Es sind Erfahrungen des mystischen Weges, die sich in diesen magischen Märchenbildern abbilden. Die Seele geht ins Totenreich, nachdem der Lebensfaden gerissen ist (Spule), sie arbeitet im Jenseits an sich weiter und kann dadurch wieder auf die diesseitige Welt einwirken. (Ausschütteln der Kissen als Schnee auf die Erde hernieder, d.h. "Ergüsse" aus den geistigen Gefilden).
Dann will sie auf eigenen Wunsch wieder zurück, nimmt die Spule mit, da sie sonst den neuen Lebensfaden nicht wieder anknüpfen kann und wird am Tor des Übergangs mit Gold überschüttet, das sie sich durch harte Arbeit verdient hat. Mit großem Seelenreichtum geht sie also in ihr neues Leben.


Ohne Magie sind Märchen keine Märchen! Auf ihre wundersame Weise verhelfen Märchen uns, das eigene Unbewusste zu erforschen und zu erhellen. Sie helfen uns bei unserem lebenslangen Individuationsprozess, auf neuen Wegen möglichst große Teile des Unbewussten ins Bewusstsein zu integrieren.