Märchen sind so alt wie die Menschheit und werden in jedem Kulturkreis erzählt.
"Märchen führen in eine Welt hinein, in der phantastische Wendungen möglich sind, sie sprechen unser Grundpotential an Hoffnung auf Veränderung an."
(Verena Kast)
Märchen heilen
"Es war einmal ..." Es gibt kaum einen Satz, den wir in unserer Kindheit so häufig vernommen haben. Mit Märchen sind wir aufgewachsen. Mit großen Augen haben wir gebannt gelauscht, sei es abends im Bett beim Vorlesen, sei es an der Seite der Großmutter, die uns die Märchen erzählt hat. Wir haben die Welt um uns herum vergessen.
Schnell haben wir uns identifiziert mit einer der handelnden Personen. Dies konnte der Held sein, der Drachen tötet, es konnte der jüngste Sohn sein, den alle für einen Dummkopf hielten, der aber zum Schluss bewies, dass er seinen Brüdern überlegen ist, oder es konnte das verachtete Kind sein, das lange Zeit ungerecht behandelt wurde, dem aber doch zu guter Letzt Gerechtigkeit widerfuhr.
Wir haben mitgefiebert und mitgezittert.
Wir haben gejubelt und uns mit unserem "Helden" gefreut; wir haben gebangt und erlöst und befreit aufgeatmet, wenn alles gut ausgegangen war. Immer waren wir mit ganzem Herzen dabei. In unserem Innern entstanden Vorstellungen, die unserer eigenen Phantasie und Erfahrungswelt entsprangen. Märchen ließen uns Raum für eigene Bilder.
Beim Anschauen der "neuen Medien" (DVD, Fernsehen oder Internet) werden uns Vorstellungen, Gefühle "aufgezwungen". Sie überrollen einfach unsere eigenen Bilder und individuellen Empfindungen.
Märchen waren für uns Kinder eine Sache, deren Sprache wir sofort verstanden. Sie waren wie Träume, voller Phantasie, miterlebbar und schufen eine Verbindung zwischen Realität, Vorstellung und Unbewusstem.
Märchen sind symbolhafte Beschreibungen und Darstellungen seelischer Prozesse. Märchen wirken unmittelbar auf die Seele des Kindes, da sie dem Seelenleben des Kindes wesensverwandt sind. Märchen sind wie Edelsteine aus einem großen Schatz, von dem die Menschen aller Völker schon seit Urzeiten schöpfen. Wichtige, das Leben fördernde Charaktereigenschaften werden in ihnen dargestellt; es wird gezeigt, dass sie zu einem "gelingenden" Leben führen. Es sind Wesenszüge wie Mut, Entschlossenheit, Klugheit, Liebe und Hoffnung, Glaube und Zuversicht. Daneben finden wir in den Märchen Eigenschaften wie Wandlungsfähigkeit, Einfühlsamkeit, Mitleid und Empathie. Auch Intuition, Selbstinitiative, Bescheidenheit und Achtung vor dem anderen werden vorgelebt. Die klare Symbolsprache der Märchen ist für Kinder gut zu verstehen und gibt ihnen eine sichere Orientierung: Held und Schurke, Gut und Böse, Angst und Angstüberwindung, Habgier und Genügsamkeit.
Mit ihren lebendigen Symbolen können sie die Seele berühren und tiefe Gefühle auslösen. Zudem vermitteln sie oft Hoffnung und bringen Anregungen für neue Lösungswege. Damit können sie heilend wirken. Sie beeinflussen die Haltung dem Leben gegenüber, ob es bewusst wahrgenommen wird oder nicht.
Alle Märchen berichten von der Selbstwerdung, von Entwicklung und Reifung, so dass niemand - weder Kind noch Erwachsener- der Aufforderung entgeht, er selbst zu werden. Dieser Weg der Selbstfindung ist ein heilender Weg. Es ist nur nicht ein Weg, der Verletzungen und Traumata behutsam heilt, sondern er schafft auch Zugänge zu ungelebtem Leben und schöpferischen Potenzial.