Wundersame Märchen
 Reise in die Märchenwelt 



Mit jedem Märchen begeben wir uns auf eine abenteuerliche Reise. Sie führt uns zu unserem „Herz“, in bekannte und unbekannte seelische Bereiche. Märchen zeigen uns unsere bewussten und unbewussten Wünsche und Sehnsüchte, sie schenken uns außerdem neue Wege, mit uns und unseren Problemen umzugehen.

Märchenhelden

Im Märchen tauchen Helden und Nebenfiguren auf. Beide spielen eine wichtige Rolle. Sie repräsentieren Aspekte unserer Seele. Mit ihnen können wir uns identifizieren und lernen dadurch Teile unseres Wesens kennen, die uns bekannt sind, aber ebenso Teile, die in uns verborgen, verdrängt und auf ihre Entdeckung warten.


Wenden wir uns zunächst den Märchenhelden zu.

Die Helden in Märchen müssen oft schwierige Aufgaben erledigen, um an ihr Ziel zu gelangen. Die Ziele können vielfältig sein: Prinzessinnen retten, um sie dann heiraten zu können; gegen Drachen und Riesen kämpfen; einen Menschen, der verzaubert worden ist, zu erlösen; unmögliche Aufgaben vollbringen, um reich, um glücklich zu werden; Menschen, die in der Gewalt des Bösen sind, zu befreien, und vieles mehr.

Bei den Helden der Märchen handelt es sich nicht immer um Helden im herkömmlichen Sinn. Es sind nicht immer Menschen mit besonders herausragenden Fähigkeiten oder Eigenschaften, die sie zu besonders hervorragenden Leistungen, sog. Heldentaten, treiben, sondern es sind oft einfach Menschen, die einen Entwicklungsprozess durchmachen. Zu den sog. Märchenhelden zählt man somit auch Dornröschen, Schneewittchen, Rotkäppchen, die bei Gott keine Heldentaten im klassischen Sinn vollbringen. Märchenhelden sind die Protagonisten im Märchen. Sie erfahren im Verlauf des Stücks eine Wandlung, sie entwickeln sich durch die Ereignisse und Erfahrungen weiter. Ein Protagonist muss nicht mit der Titelfigur eines Märchens identisch sein.


Bei den Märchenhelden kann man unterschiedliche Gruppen erkennen.
Einerseits sind es einfache Leute aus den verschiedenen handwerklichen Berufen wie Bauer, Müller, Schmied, Schuster und Schneider, andererseits handelt es sich um Söhne und Töchter, die noch am Anfang ihrer Entwicklung stehen.
Sich mit den Menschen aus diesen beiden Gruppen zu identifizieren, fällt dem Leser oder Zuhörer leicht, da sie eine ähnliche Ausgangslage haben.
Die dritte Gruppe der Hauptfiguren kommt aus der Schicht, die sich abhebt von den einfachen Menschen. Es sind Könige und Königinnen, Prinzen und Prinzessinnen. Sie führen ein Leben, das sich manch einer von uns vielleicht erträumt.


Jede Figur im Märchen wird auf ihren wichtigsten Charakterzug reduziert (der Gute, der Böse, der Geizige, der Faule, der Mutige ...) Eine differenzierte Betrachtung ihres Wesens findet nicht statt. Man erfährt über sie nur das Nötigste, um die Geschichte weiter verfolgen zu können.

Was passiert, wenn wir den Märchenheld bei seiner Geschichte begleiten?
Beim Lesen und Hören von Märchen identifizieren wir uns oft mit dem Märchenhelden. Seine Probleme sind oft unsere Probleme, seine Ziele sind oft unsere Wünsche und Bedürfnisse. Seine Handlungen sind manchmal unsere, wie wir sie uns erträumen. Märchenhelden können auch stellvertretend für unsere Träume sein, für Gestalten, die so sind, wie wir gerne sein würden.


Schauen wir uns die Gruppen der Märchenhelden einmal genauer an.

Handwerker: Es sind zumeist fleißige, einfache und bodenständige Menschen, die einen schweren Stand im Leben haben. Sie sind der Gegenpart zu der privilegierten Schicht.
Es war einmal ein Müller, der war arm, aber er hatte eine schöne Tochter. Nun traf es sich, dass er mit dem König zu sprechen kam, und um sich ein Ansehen zu geben, sagte er zu ihm:
"Ich habe eine Tochter, die kann Stroh zu Gold spinnen."

(Grimms Märchen, Rumpelstilzchen)


Töchter und Söhne: Im Märchen ist häufig die Rede von Töchtern und Söhnen. Sie stehen noch nicht auf eigenen Füßen, haben noch keinen Beruf erlernt oder noch keine Familie gegründet. Der Held ist zunächst oft "arm dran" (Waise, jüngstes Kind, Stiefkind, armer Schlucker, Dummerjan,...). Sie brechen zumeist in die Welt auf, von Eltern geschickt, oder aus äußerer oder inneren Notwendigkeit, und machen dort Erfahrungen, die sie reifen lassen.
Es war ein Mann, der hatte drei Söhne und weiter nichts im Vermögen als das Haus, worin er wohnte. Nun hätte jeder gerne nach seinem Tode das Haus gehabt, dem Vater war aber einer so lieb als der andere, da wusste er nicht, wie ers anfangen sollte, dass er keinem zu nahe tät; verkaufen wollte er das Haus auch nicht, weils von seinen Voreltern war, sonst hätte er das Geld unter sie geteilt. Da fiel ihm endlich ein Rat ein, und er sprach zu seinen Söhnen "geht in die Welt und versucht euch, und lerne jeder sein Handwerk, wenn ihr dann wiederkommt, wer das beste Meisterstück macht, der soll das Haus haben."
(Grimms Märchen, Die drei Brüder)


Prinz: Märchenprinzen sind reich. Die vorrangige Aufgabe des Prinzen im Märchen ist es, das Herz einer Frau zu gewinnen und dann darum kämpfen, sie heiraten zu können. Er hat ein großes Herz. Zumeist sucht er sich Prinzessinnen, aber gelegentlich auch eine Frau aus dem Volke, in die er sich verliebt und um deren Gunst er unbeirrt kämpft.
Der Königssohn wollte zu ihr hinaufsteigen und suchte nach einer Türe des Turms, aber es war keine zu finden. Er ritt heim, doch der Gesang hatte ihm so sehr das Herz gerührt, dass er jeden Tag hinaus in den Wald ging. ...
(Grimms Märchen, Rapunzel)


Prinzessin: Die Haupteigenschaft von Märchenprinzessinnen ist ihre Schönheit.
In den alten Zeiten, wo das Wünschen noch geholfen hat, lebte ein König, dessen Töchter waren alle schön, aber die jüngste war so schön, daß die Sonne selber, die doch so vieles gesehen hat, sich verwunderte, sooft sie ihr ins Gesicht schien.
(Grimms Märchen, Froschkönig oder der eiserne Heinrich)
Wie die Schönheit aussieht, wird nicht beschrieben. Das bleibt dem Leser und Zuhörer überlassen.

Das zweite Charakteristikum von Prinzessinnen ist ihre Tugendhaftigkeit.
Aus ihrer Ehe erwuchs eine mit so vielen Reizen und Tugenden geschmückte Prinzessin, daß sie sich über den Mangel weiterer Nachkommenschaft billig trösten konnten.
(Charles Perrault, Eselshaut)

Es gibt nur einige wenige Ausnahmen, wo die Prinzessin eitel, herrschsüchtig oder egoistisch ist.
Ein König hatte eine Tochter, die war über alle Massen schön, aber dabei so stolz und übermütig, dass ihr kein Freier gut genug war. Sie wies einen nach dem andern ab, und trieb noch dazu Spott mit ihnen.
(Grimms Märchen, König Drosselbart)


Königinnen treten häufig als Mütter in Erscheinung. Oft sehnen sie sich lange oder vergeblich nach einem Kind.
Vor Zeiten war ein König und eine Königin, die sprachen jeden Tag: "Ach, wenn wir doch ein Kind hätten!" und kriegten immer keins.
(Grimms Märchen, Dornröschen)


Stiefmütter: Wenn eine Frau als "Stiefmutter" das Kind ihres Partners als ihr eigenes annimmt, verdient das eigentlich Hochachtung. Doch im Märchen ist die Stiefmutter der Typ einer bösen Frau. Sie ist gemein, eifersüchtig, herrschsüchtig, die Stiefkinder schikanierend. Kinder werden ausgesetzt, Kinder werden durch niedrige Arbeiten gedemütigt, sie stellt unlösbare Aufgaben an die Kinder.
Über ein Jahr nahm sich der König eine andere Gemahlin. Es war eine schöne Frau, aber sie war stolz und übermütig und konnte nicht leiden, dass sie an Schönheit von jemand sollte übertroffen werden.
(Grimms Märchen, Schneewittchen)


Stieftöchter: Sie unterstützen die Stiefmutter in ihren schlimmen Taten und Quälereien.
Die Frau hatte zwei Töchter mit ins Haus gebracht, die schön und weiss von Angesicht waren, aber garstig und schwarz von Herzen. Da ging eine schlimme Zeit für das arme Stiefkind an.
(Grimms Märchen, Aschenputtel)


Räuber leben zumeist im finsteren Wald und berauben den arglosen Märchenhelden um sein Hab und Gut. Sie schrecken vor Raub, vor Mord nicht zurück, um an ihre Beute zu kommen.
...so kam die gottlose Rotte nach Haus. Sie brachten eine andere Jungfrau mitgeschleppt, waren trunken und hörten nicht auf ihr Schreien und Jammern. Sie gaben ihr Wein zu trinken, drei Gläser voll, ein Glas weissen, ein Glas roten und ein Glas gelben, davon zersprang ihr das Herz. Darauf rissen sie ihr die feinen Kleider ab, legten sie auf einen Tisch, zerhackten ihren schönen Leib in Stücke und streuten Salz darüber.
(Grimms Märchen, Der Räuberbräutigam)
Am Ende aber werden die Räuber (oft durch List und Tücke) besiegt.


Wenden wir uns nun den Nebenfiguren zu.

Es sind oft Zauberwesen wie Hexen, Feen, Teufel, Zauberer, Drachen, Elfen. Sie sind ausgestattet mit magischen Attributen (Zauberstab, fliegendes Pferd, Zauberring, u.a.)
Die Zauberwesen helfen oder sie hindern den Helden, sein Ziel zu erreichen, indem sie ihnen schaden.
... beschenkten die weisen Frauen das Kind mit ihren Wundergaben: die eine mit Tugend, die andere mit Schönheit, die dritte mit Reichtum, und so mit allem, was auf der Welt zu wünschen ist. Als elfe ihre Sprüche eben getan hatten, trat plötzlich die dreizehnte herein. Sie wollte sich dafür rächen, dass sie nicht eingeladen war, und ohne jemand zu grüssen oder nur anzusehen, rief sie mit lauter Stimme: "Die Königstochter soll sich in ihrem fünfzehnten Jahr an einer Spindel stechen und tot hinfallen."
(Grimms Märchen, Dornröschen)


Die Hexen sind von allen Zauberwesen diejenigen, die am meisten gefürchtet werden.
Die Alte hatte sich nur freundlich angestellt, sie war aber eine böse Hexe, die den Kindern auflauerte, und hatte das Brothäuslein bloss gebaut, um sie herbeizulocken. Wenn eins in ihre Gewalt kam, so machte sie es tot, kochte es und ass es, und das war ihr ein Festtag. Die Hexen haben rote Augen und können nicht weit sehen, aber sie haben eine feine Witterung wie die Tiere und merken's, wenn Menschen herankommen.
(Grimms Märchen, Hänsel und Gretel)


Weise Männer, weise Frauen: Sie leben oft im Wald oder am Dorfrand. Sie sind alt und strahlen eine innere Ruhe und Weisheit aus. Sie werden auch oft als der Alte oder die Alte bezeichnet. Sie werden als Helfer und Berater aufgesucht oder greifen selbst wegweisend in das Leben ein. Mit ihren Worten und Gaben entlassen sie den Menschen gestärkt auf seinen weiteren Lebensweg.
Sie sassen all über diesen Handel und wussten nicht, wie sie ihm tun sollten, denn sie sahen wohl, dass es kindlicherweise geschehen war. Einer unter ihnen, ein alter weiser Mann, gab den Rat, der oberste Richter solle einen schönen roten Apfel in eine Hand nehmen ...
(Grimms Märchen, Wie Kinder Schlachtens miteinander gespielt haben)

Der Gram erfüllte aufs neue ihr Herz; aber der Traum führte sie zum drittenmal in das Haus der Alten. Sie machte sich auf den Weg und die alte Frau gab ihr ein goldenes Spinnrad, tröstete sie und sprach: "Es ist noch nicht alles vollbracht, harre, bis der Vollmond kommt, dann ..."
(Grimms Märchen, Die Gänsehirtin am Brunnen)


Die dritte Gruppe der Märchenfiguren sind die Fabelwesen. Hierzu rechnet man die Zwerge, Trolle, Wichtel, Gnomen, Drachen, Riesen und Tiere.

Die Zwerge, Wichtel und Trolle leben in Höhlen, unter Felsen oder allgemein im Gebirge und im Wald. Zumeist werden sie als kleine Wesen dargestellt. Sie sind oft Hüter unterirdischer bzw. verborgener Schätze.
In unseren westlichen Märchen werden sie als Wesen geschildert, die sowohl hilfreich als auch böse sein können.

Als es Mitternacht war, da kamen zwei kleine niedliche nackte Männlein, setzten sich vor des Schusters Tisch, nahmen alle zugeschnittene Arbeit zu sich und fingen an mit ihren Fingerlein so behend und schnell zu stechen, zu nähen, zu klopfen, daß der Schuster vor Verwunderung die Augen nicht abwenden konnte.
(Grimms Märchen, Die Wichtelmänner)

Es war einmal ein böser Zwerg, der lebte in einem Wald in einer ausgehöhlten alten Eiche. Seine Bosheit bestand darin, dass er Kaufleuten, die durch den Wald mussten, Fallen stellte, sie erschlug und deren Habe in seiner hohlen Eiche hortete.
(Der böse Zwerg und die Fliege)


Der Drache, ein weiteres Fabelwesen, taucht in fast allen Kulturen auf. Jedoch in unseren westlichen Ländern ist er immer ein Teil des Bösen, gegen das der Held kämpfen muss.
Sprach der Drache "so mancher Rittersmann hat hier sein Leben gelassen, mit dir will ich auch fertig werden," und athmete Feuer aus sieben Rachen. Das Feuer sollte das trockne Gras anzünden, und der Jäger sollte in der Glut und dem Dampf ersticken ...
(Grimms Märchen, Die zwei Brüder)


Riesen: Sie werden als groß, gierig, jähzornig und dumm dargestellt.
Plötzlich stand ein Riese vor ihm. Er war mindestens 50 Meter hoch und hatte rote, glühende Augen. Der Zwerg bekam Angst, weil der Riese ihn schnappen wollte.
(Der Riese und der Zwerg)

Der Riese nahm den Stamm auf die Schulter, der Schneider aber setzte sich auf einen Ast, und der Riese, der sich nicht umsehen konnte, mußte den ganzen Baum und das Schneiderlein noch obendrein forttragen. Es war dahinten ganz lustig und guter Dinge, pfiff das Liedchen "Es ritten drei Schneider zum Tore hinaus", als wäre das Baumtragen ein Kinderspiel. Der Riese, nachdem er ein Stück Wegs die schwere Last fortgeschleppt hatte, konnte nicht weiter und rief: "Hör, ich muß den Baum fallen lassen." Der Schneider sprang behendiglich herab, faßte den Baum mit beiden Armen, als wenn er ihn getragen hätte, und sprach zum Riesen: "Du bist ein so großer Kerl und kannst den Baum nicht einmal tragen."
(Grimms Märchen, Das tapfere Schneiderlein)


Tiere: In den Märchen sind die Tiere "wundersam" und treten mit Menschen in Kontakt, sprechen mit ihnen und verhelfen ihnen zu Glück oder Reichtum.
"Hör," fing der Kater an, der alles verstanden hatte, "du brauchst mich nicht zu töten, um ein Paar schlechte Handschuhe aus meinem Pelz zu kriegen; lass mir nur ein Paar Stiefel machen, dass ich ausgehen und mich unter den Leuten sehen lassen kann, dann soll dir bald geholfen sein."
(Grimms Märchen, Der gestiefelte Kater)

Des Morgens früh, da sie und Kürdchen unterm Tor hinaustrieben, sprach sie im Vorbeigehen: "O du Falada, da du hangest", da antwortete der Kopf: "O du Jungfer Königin, da du gangest, wenn das deine Mutter wüßte, ihr Herz tät' ihr zerspringen."
(Grimms Märchen, Die Gänsemagd)


Ist der Märchenheld als Protagonist, sind die bösen Kräfte als Antagonisten zu bezeichnen. Sie ermöglichen dem Märchenhelden, sein Heldentum zu beweisen und in dem Kampf gegen sie zu reifen.

Der Märchenheld wird zumeist aus seinem ursprünglichen Lebensumfeld herausgeholt und ist oft auf sich gestellt. Er kann durch Zauberei anderer in Schwierigkeiten geraten oder durch guten Zauber gerettet werden. Dazu tauchen Helfer auf, die ihm ermöglichen, den Kampf zu gewinnen. Das Ende des Märchens ist (fast) immer: Der oder das Böse wird besiegt oder getötet; der oder das Gute siegt.

Märchen, das bedeutet oft, dass das Einfache auf das Außergewöhnliche trifft. Hierdurch wird es möglich, in uns zu „steigen“ und mit einer gewissen Distanz unsere eigene erlebte Vergangenheit und die verschwiegenen, oft verdrängten Wünsche und Sehnsüchte zu entdecken und einen neuen Umgang mit uns und anderen zu lernen. Den Weg nach innen zu gehen, alle Aspekte unserer Seele zu entdecken ist eine immerwährende Aufgabe.